Der Wiederaufbau der Kirche auf ihren ursprünglichen Grundlagen

 

 

Aus dem Anhang: Die kirchengeschichtliche Deutung des Sendschreibens an die Gemeinde in Philadelphia

Phliadelphia heißt wörtlich übersetzt: "Bruderliebe". Die herzliche, geschwisterliche Liebe der Christen untereinander ist ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Kennzeichen ihrer Zugehörigkeit zu ihrem Herrn. In der frühen Zeit der Kirche wurde sie noch praktiziert, doch im Laufe der Jahrhunderte verkehrte sie sich ins Gegenteil: Liebloses Richten, Streit und Unversöhnlichkeit, ja blutige Auseinandersetzungen prägten die Beziehungen der verschiedenen Kirchen untereinander. Das 6. Sendschreiben birgt deshalb die Verheißung in sich, daß die verschiedenen Denominationen, und zwar noch vor der Wiederkunft Christi, aus ihrer Zertrennung zurückgerufen und ihre Mitglieder zur wahren geschwisterlichen Liebe fähig gemacht werden. Ein besonderes Werk der göttlichen Gnade wird hier in Aussicht gestellt. Dieses würde nach den Tagen der Reformation, aber noch vor der Zeit Laodizeas geschehen.

Im 18. Jahrhundert hatte der geistliche Zustand der christlichen Völker einen Tiefpunkt erreicht: Die Lehre war verwässert, das sittliche Leben dem Geist der Zeit angepaßt, die gottesdienstlichen Ordnungen waren verunstaltet, die Kirchenmitglieder dem wahren Wesen des Glaubens entfremdet und die Gebildeten unter ihnen eifrig im Spotten und Lästern. Das Salz der Kirchen war kraftlos geworden, und die Bereitschaft wuchs, es wegzuwerfen und von den Leuten zertreten zu lassen. Mit Überdruß wandten sich viele von ihrer Kirche ab, und in die Stimmen der Kritik mischten sich zunehmend auch Geister aus dem Abgrund, die die Getauften zum Haß gegen die "alt und schwach gewordene Mutter Kirche" aufstachelten. Lange hatten die Christen einander angeklagt, doch jetzt war die Zeit reif geworden, daß ihre Gegner zur Abrechnung aufriefen. Gleichzeitig suchte man nach einem neuen, von Gott, Christus und Kirche unabhängigen Paradigma, hoffte man doch, das wahre Heil auf die dem Menschen von Natur aus innewohnenden Kräfte gründen zu können.

Die große französische Revolution, die die althergebrachten Ordnungen in Kirche und Staat bis auf ein paar Trümmer mit unwiderstehlicher Macht hinwegfegte, errichtete ein "Gebäude", in dem die "Räume" in erster Linie der sinnlichen Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienten. Die überkommenen Formen des Christentums wurden in schärfster Weise bekämpft, während man den aus der Revolution geborenen neuen Führer, in dem sich schon unverkennbar das schreckliche Tier aus dem Abgrund ankündigte, abgöttisch verehrte. Der Sturz Napoleons war nicht der Schlußpunkt der antichristlichen Umtriebe, sondern lediglich das Ende des ersten Hauptstosses eines Erdbebens, dessen Rumoren sich fortsetzen und unter dem Boden der umliegenden Reiche nicht mehr verstummen sollte.

Die Revolution brachte aber nicht nur die entarteten und altehrwürdigen Ordnungen in Kirche und Staat zum Einsturz, sie rüttelte auch manche Gläubige aus dem Schlaf ihrer Sicherheit wach: Etliche schlossen sich zusammen, um die antichristlichen Tendenzen zu bekämpfen. Die "Heilige Allianz" der griechischen, römischen und protestantischen Monarchen stand symbolisch für die religiöse Stimmung der damaligen Zeit. Was bis dahin trennend gewirkt hatte, war angesichts dessen, was man nun gemeinsam erstrebte, belanglos geworden. Die damalige Zeit der Verwirrung wurde sogar, was wohl kaum jemand erwartete, eine besondere "Stunde Gottes", der seinem Volk eine Hilfe anbot, die der Not im vollkommenen Maße entsprach, nämlich die Rückführung der Kirche aus ihrer jahrhundertelangen "babylonischen Gefangenschaft". Aus ihrer konfessionellen Verwirrung sollte sie befreit und dabei auf ihren ursprünglichen Grundlagen wiederaufgebaut werden.

Christus stellt sich als derjenige vor, der mit dem Schlüssel Davids souverän auf- und zuschließen kann. Dieser Schlüssel, der zunächst auf den Sohn Gottes als höchsten vom himmlischen König bevollmächtigten Verwalter aller Gnadengüter hinweist, symbolisiert in diesem Sendschreiben die geistliche Vollmacht, die den damaligen kirchlichen Amtsträgern von ihrem himmlischen Haupt übertragen worden sind. Diejenigen unter ihnen, die ihr Amt zur Bereicherung und Verherrlichung ihrer selbst mißbrauchen, werden – mit Bezug auf eine alttestamentliche Begebenheit – das Schicksal des untreuen Verwalters Schebna teilen. Ein anderer, nämlich Eljakim wird an seiner Stelle das "Vateramt" in Jerusalem empfangen, das vornehmlich ein Typus der Aufgaben ist, die gemäß der ursprünglichen Kirchenordnung den Aposteln vorbehalten waren. Der Hinweis auf die Schlüssel Davids birgt in diesem Kontext also die Verheißung in sich, daß der Kirche in späteren Zeiten solche "Väter" gegeben werden, denen, wie es bei Paulus und den übrigen Aposteln der Fall war, die geistliche Schlüsselgewalt im vollen Umfang, nämlich zur Wiederherstellung und Vollendung des Baues der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, übertragen wird. Die Rede ist hier von der Wiedererweckung der urchristlichen kirchlichen Ämter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die Lügner aus der Gefolgschaft Satans, die fälschlich von sich behaupten, Juden zu sein, verweisen auf solche Mitglieder des neutestamentlichen Bundesvolkes, die den Anspruch des neu eingesetzten "Eljakim" zunächst entschieden abweisen und sich erst später, nämlich in den Wirren der Endzeit, vor ihm niederwerfen und seine Erwählung erkennen werden.

Antitypisch zum alttestamentlichen Geschehen wird sich in der Kirche die Geschichte Josephs und seiner Brüder wiederholen: Diese, d.h. die Vertreter der bestehenden Konfessionen, werden den Traum ihres "kleinen Bruders", eine geistliche "Erstlingsgarbe" zu sein, vor der sie sich samt den Eltern zu verneigen hätten, als schwärmerischen Hochmut, ja sektiererische Verirrung zurückweisen. Erst die große geistliche Hungersnot zur Zeit der Herrschaft des Antichristen wird sie dazu bringen, bei dem verratenen und verkauften und lange verkannten Bruder Hilfe zu suchen.

Wie viele andere besorgte Zeitgenossen zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren auch die späteren Gründer und Oberhäupter der katholisch-apostolischen Gemeinden von den Ereignissen der französischen Revolution und ihren Auswirkungen tief betroffen. Sie sahen seitdem die damalige Welt in einer gesellschaftspolitischen Krise unabsehbaren Ausmaßes begriffen, die – sollte keine Wende eintreten – dazu führen würde, "die Auflösung aller bisherigen sittlichen, religiösen und politischen Grundsätze . zu vollenden, um auf den Trümmern des christlichen Glaubens unter dem Namen der Freiheit das neue Zeitalter einer atheistischen Anarchie aufzubauen." Mit dieser Prognose beginnt das "Testimonium", die Zeugnisschrift der Apostel, die als grundlegendes Dokument der katholisch-apostolischen Bewegung angesehen werden kann. In dieser Schrift werden die "geistlichen und weltlichen Häupter der Christenheit" beschworen, die an sie gerichteten Warnungen nicht zu überhören. Die Kirchen bedürften einer Reform, die in umfassender und Gott wohlgefälliger Weise allein auf der Basis der Wiederherstellung der urkirchlichen Ämter durchgeführt werden könne. Allein das Apostelamt, das Gott in jenen Tagen wiedererweckt habe, sei das Zentrum wahrer Autorität und Lehre sowie der Einheit der gesamten Kirche.

Das Testimonium wurde zuerst dem Papst, dann dem österreichischem Kaiser, darauf dem König von Frankreich und schließlich den Fürsten und geistlichen Oberhäuptern aller christlichen Länder überreicht. Im Anschluß daran sollte die eigentliche Aufgabe beginnen, nämlich die verschiedenen Teile der Kirche durch die Wiederherstellung der Einheit und die Rückführung zu den ursprünglichen Grundlagen im Glauben zu stärken und auf das Wiederkommen Christi vorzubereiten. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch, da die führenden Geistlichen dieser Bewegung von den Repräsentanten der damaligen Kirchen nicht als wahre Apostel Christi anerkannt, sondern vielmehr als gefährliche Sektierer eingestuft wurden. So entstand eine weitere christliche Gemeinschaft, und da in vielen Fällen die Exkommunikation derer erfolgte, die ihre Sympathie für das Anliegen der Bewegung bekundeten, sah man sich zur Gründung eigener Gemeinden genötigt.

Knapp sechsundsechzig Jahre lang wirkten die Apostel, indem sie weltweit Gemeinden gründeten, die in ihrer Ausgestaltung als Muster für die ganze Kirche hätten dienen sollen. Doch wie einst Johannes, der letzte und größte Prophet des Alten Bundes, der dem ersten Kommen Christi den Weg bereitet hatte, von den führenden Vertretern der jüdischen Parteien abgelehnt wurde, so sahen sich auch die Leiter der katholisch-apostolischen Gemeinden von den damaligen Repräsentanten der Kirchen verkannt, was auch letztlich – trotz anfänglicher großer Enttäuschung – in den Reihen der Bewegung keine Verwunderung mehr hervorrief; war doch kein vorhergehender Abschnitt der bisherigen Heilsgeschichte mit einer umfassenden Bekehrung aller, die ihm angehörten, abgeschlossen worden, sondern stets mit der Sammlung eines "treuen Überrestes". Alle, die sich dem Ruf zur Umkehr hartnäckig widersetzt hatten, traf am Ende Gottes gerechtes Gericht, während die davon verschont gebliebenen dazu auserwählt gewesen waren, in der darauffolgenden Periode der Heilsgeschichte bei der weiteren, schrittweisen Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes mitzuwirken.

Als der letzte Apostel F. Woodhouse im Jahre 1901 starb, ohne daß sich die anfängliche Hoffnung der Gemeinden auf Christi Wiederkunft erfüllt hätte, konnten keine weiteren Amtsträger ordiniert werden, da hierzu ausschließlich die Apostel berechtigt waren. So nahm die Anzahl der ordinierten Bischöfe, Priester und Diakonen nach und nach ab. Heute leben die Mitglieder der katholisch apostolischen Gemeinden in völliger Zurückgezogenheit und feiern aufgrund der fehlenden Ämter nur noch Gebetsgottesdienste. Dennoch verstehen sich die Mitglieder der Gemeinden, die in der Regel an den Gottesdiensten der vorhandenen Ortsgemeinden teilnehmen, als eine auf ihren Herrn wartende Gemeinschaft. Starken Auftrieb erhielt ihre Hoffnung durch Weissagungen, die schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder darauf hinwiesen, daß es nach dem Niedergang des bestehenden Errettungswerkes eine Fortsetzung zur Zeit der letzten großen Verfolgung unter der Herrschaft des Antichristen geben werde.

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