Die Bischöfe der Alten Kirche und der Montanismus

 

 

Aus dem Anhang: Die kirchengeschichtliche Deutung des Sendschreibens an die Gemeinde in Smyrna

Die Apostel waren ihrem Auftrag treu geblieben, doch viele Getaufte hatten nicht nur die "erste Liebe" verloren, sondern sich auch gegen die Autorität des höchsten kirchenleitenden Amtes aufgelehnt. Anscheinend ist hierin der Hauptgrund dafür zu sehen, daß der frühen Kirche die Apostel gänzlich entzogen wurden. Nun musste die junge Christenheit auf schmerzliche Weise erfahren, was es heißt, sich "von Gott abzuwenden" und unter die Herrschaft von Menschen zu geraten. Doch trotz des Verlustes solcher Männer, auf denen die Kirche als auf ihrem Fundament erbaut ist, sollte sich im weiteren Verlauf ihrer Geschichte die Verheißung bewahrheiten, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwinden würden.

Nach dem Abscheiden der Apostel sahen sich notgedrungen die Bischöfe, deren Auftrag sich prinzipiell nur auf regional begrenzte Gemeinden beschränkte, vor die Aufgabe der Leitung der Gesamtkirche gestellt. Anfangs schienen sie noch deutlich gespürt zu haben, dass das ihnen verliehene Charisma hinter dem eines Apostels deutlich zurückstand. Sie verrichteten Aufgaben mit übergemeindlichem Charakter zunächst noch mit weiser Zurückhaltung. So gibt etwa Ignatius von Antiochien unumwunden zu, daß er nicht wie ein Apostel gebieten kann.

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So bemühten sich die Bischöfe redlich, die Aufgaben der Apostel fortzuführen und den Angriffen, die sich gegen die Kirche erhoben, standzuhalten. Sie leisteten in dieser kritischen Phase zweifellos Großes; andererseits trugen sie aber auch maßgeblich dazu bei, daß der gottgegebene Organismus Kirche mehr und mehr zu einer durch Menschen manipulierte Organisation wurde. Vollzog sich im ersten Jahrhundert die Berufung zum Bischofsamt noch mit namentlicher Bezeichnung durch die Stimme des Heiligen Geistes, der sich durch die urchristlichen Propheten äußerte, so wurde sie im 2. Jahrhundert zunehmend eine Sache menschlicher Überlegungen oder sie geschah auf ein vermeintliches "Zeichen von oben" hin. Unstimmigkeiten und Streitigkeiten, ja der Zerfall der kirchlichen Einheit waren damit vorprogrammiert. Bezeichnend ist, daß die Bischöfe schon im dritten Jahrhundert an den heidnischen Kaiser Aurelian mit der Bitte herantraten, den Irrlehrer Paulus von Samosata von seinem Bischofssitz zu entfernen.

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Unübersehbar ist auch, daß die Durchführung kirchendisziplinarischer Maßnahmen unter der Herrschaft der Bischöfe den weise abwägenden Charakter verlor. Sie vermochten die milde, aber gleichzeitig kraftvolle Art der Apostel nicht fortzuführen. Deutlich wird dies etwa an der unklugen Vorgehensweise der Bischöfe gegen den Montanismus, der zwar überspannte Forderungen vertrat, dessen berechtigtes Anliegen aber, die Kirche aus ihrer Weltförmigkeit zur wahren Heiligkeit zurückzuführen, tragischerweise verkannt wurde. Den Bischöfen fehlte ganz offensichtlich die Kompetenz, sorgfältig zu prüfen und dabei das Gute zu behalten; statt dessen wurde die gesamte Bewegung unterdrückt.

Der Montanismus entstand um die Mitte des zweiten Jahrhunderts in Kleinasien. Montanus, ein ehemaliger heidnischer Priester, verkündigte das nahe Weltende und die Wiederkunft Christi, der die Aufrichtung des Tausendjährigen Friedensreiches unmittelbar folgen würde. Dies war zunächst nichts Besonderes, gehörte doch die Lehre vom Millennium zum allgemeinen Glaubensgut der Kirche. Aber Montanus rief die Gläubigen – unter Berufung auf besondere Offenbarungen des Heiligen Geistes – mit harschen Worten zur Umkehr aus ihrer Weltförmigkeitauf, und dabei forderte er eine so strenge Disziplin, wie selbst die Apostel sie niemals verlangt hatten. Als die Bischöfe auch solchen, die sich schwerer sittlicher Verfehlungen schuldig gemacht oder bei Verfolgungen ihren himmlischen Herrn verleugnet hatten, die Absolution erteilten, bestritten die Montanisten den Bischöfen das Recht der Schlüsselgewalt. Nur das Lehramt, nicht aber die Vollmacht, Sünden zu vergeben und zu behalten, sei von den Aposteln auf sie übergegangen. Allein der jetzt durch die Propheten redende Geist, den Christus als seinen Stellvertreter zurückgelassen habe, habe dazu das Recht. Er, der Geist, wolle aber die schweren Sünden nicht vergeben, damit die Sünder nicht in ihrem verwerflichen Tun bestätigt würden. Ja man ging sogar soweit, zu behaupten, der Geist – und zwar unabhängig vom verfaßten Bischofsamt – sei nicht nur das von Gott verordnete Mittel zur Reformation, sondern auch das zur Leitung der Kirche. Hatten sich die Bischöfe einst angemaßt, ohne Apostel zu regieren, so fingen jetzt selbsternannte Propheten an, zu behaupten, dies auch ohne Bischöfe tun zu können.

Montanus hatte richtig erkannt, daß die Bischöfe ihre Kompetenz überschritten und die Schlüsselgewalt oft stärker zu dem Zweck einsetzten, die Kirche dem Zeitgeist anzupassen, als sie von diesem abzugrenzen. Mit seinem Protest gegen die zunehmende Verweltlichung und den allmählichen Sittenverfall vertrat er gewiß ein berechtigtes Anliegen, und auch der sich durch die Montanisten offenbarende Geist darf nicht pauschalisierend als Irrgeist abqualifiziert werden. Montanus hatte Recht darin, daß die Fülle des Evangeliums nicht allein auf die Vergangenheit fixiert werden darf; vielmehr will sich der Geist Gottes, im Sinne einer nicht falsch zu verstehenden "fortlaufenden Offenbarung", in der Gegenwart als wirkmächtig und kraftvoll erweisen.

So sahen sich die Bischöfe durch den Montanismus vor die Frage gestellt, ob sich die Kirche zur ursprünglichen Heiligkeit zurückrufen lassen oder ob sie den Weg der Angleichung an die "Welt" fortsetzen wolle. Sie entschied sich nach hartem Ringen für die zweite Möglichkeit. Doch indem die Bischöfe diese Bewegung völlig unterdrückten, erwiesen sie sich als unfähig, die Spreu vom Weizen zu trennen und leisteten damit einer verhängnisvollen Doppelmoral Vorschub: Während das sittliche Niveau der überwiegenden Mehrheit der Getauften zunehmend herabsank, nahm eine Minderheit "das ganze Joch Christi" auf sich. Auf diese Weise drangen ungesunde Formen der Askese, die in heidnisch-religiösen Praktiken ihr Vorbild hatten und die später im Mönchtum weiterentwickelt wurden, in die Kirche ein. Schon im zweiten Jahrhundert wurde so der Grundstein zu einer überzogenen Gesetzesfrömmigkeit gelegt, die im 16. Jahrhundert eine der Hauptursachen der großen Kirchenspaltung war.

Mit der gänzlichen Ablehnung des Montanismus, der neben sehr bedenklichen Einseitigkeiten und Verzerrungen auch berechtigte Anliegen vertrat, wurde die Hoffnung auf das baldige Kommen Christi und die Erwartung des Millenniums mit dem Sektennamen "Chiliasmus" belegt. Ein folgenschwerer Irrtum, der sich bis in das immanenzverhaftete Denken der Neuzeit auswirken sollte, das eine persönliche Wiederkunft Christi strikt leugnet. Mit der Ausscheidung der Anhänger des Montanus als vom Teufel besessene Irrlehrer verbannte die Kirche das freiwirkende Pneuma aus ihren Mauern; damit verurteilte sie ihre eigene Vergangenheit, ja sie machte dadurch das Gebet um das Kommen des Schöpfer-Geistes zu einer leeren Phrase.

Die Bewahrung der kirchlichen Einheit, die Handhabung der Gemeindezucht, die Formulierung ethischer Grundsätze – all dies waren Aufgaben, denen die Bischöfe offensichtlich nicht gewachsen waren. So kann es nicht verwundern, daß unter ihrer Federführung auch die Wahrung bzw. die Neuformulierung des christlichen Dogmas, das die Apostel zwar klar und kraftvoll, aber doch erst nur ansatzweise begründet hatten, Schaden litt. Während sich die Bischöfe mit der Trinität und der Christologie beschäftigten – und auch zu biblisch gut fundierten Ergebnissen kamen – , trübte sich das Verständnis von Rechtfertigung, Heiligung und Erlösung. Statt freimachender Gnade faßte in der Christenheit eine strenge und versklavende Gesetzesfrömmigkeit immer stärker Fuß. Auch dies ist als Folge des Verlustes der beiden höchsten kirchlichen Ämter, der "Urim und Tummim", anzusehen. Seitdem sich – zumal nach der pauschalen Verwerfung des Montanismus – der Geist Gottes nicht mehr in der ursprünglichen Kraft und Eindeutigkeit offenbaren konnte, wurde die Theologie zunehmend eine Sache der Lehrstreitigkeiten und sich widersprechender und bekämpfender Schulen.

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